Jürgen Dreißig - sein Leben, seine Kunst

Der Maler und Grafiker Jürgen Dreißig, Jahrgang 1956, der bereits seit den frühen 80er Jahren durch zahlreiche Ausstellungen auf sich aufmerksam machen konnte, ist Autodidakt und von Anfang an ein vielversprechender Außenseiter in den Gefilden der Kunst. Besessen von dem, was er, seiner inneren Bestimmung folgend, machen musste, kümmerte er sich nie um eine akademische Ausbildung, gar eine bürgerliche Laufbahn, lernte auch mehr im Zeichenzirkel denn bei der Lehre als Gebrauchswerber. Die Tiere, die auf vielen seiner Bilder in teils grotesken, aber immer sympathischen Überhöhungen zu finden sind, lernte er spätestens im Dresdner Zoo, wo er als Tierpfleger bis 1982 gearbeitet hat, auch mit Kennerblick lieben. Seine Schlangen vor allem, die er noch heute suggestiv herzlich im Wohnzimmer bewundert, liebte er zu sehr, es gab Ärger mit dem Zoll um seine Reptilien daheim.

Sein Erwachen zum Künstler vollzieht sich ebenfalls jenseits von jeglicher Norm. Es kommt einer inneren Initialzündung gleich, einer Initiation, die sein Leben von Grund auf verändert. Er begibt sich ohne jeden finanziellen Rückhalt in ein Abseits, welches in seinem Falle ein schöpferisches, kein isolierendes, sondern ein sich öffnendes und ungeahnte Energien freisetzendes Abseits ist, das die außerordentliche, Konventionen sprengende künstlerische Leistung erst möglich macht. Von Stund an übertrumpft ein großer Wurf den vorangegangenen. Und das erregt nicht nur das Staunen der Freunde, sondern bald auch öffentliche Aufmerksamkeit und das Interesse der Fachwelt. Die Maler Hubertus Giebe, Dozent an der Dresdner Kunsthochschule, und Dieter Bock setzen sich für ihn ein. Nach anfänglichen Schwierigkeiten und Widerständen wird Dreißig 1985 als Kandidat in den Verband Bildender Künstler aufgenommen, was für einen Autodidakten unter DDR-Verhältnissen als ein ausgesprochenes Novum bezeichnet werden kann.

Die Wende schien auch für ihn zu einer Zäsur zu werden. Ein Vierteljahr Stipendium der Dresdner Stadtverwaltung, ein hier aktiver Bonner Bauunternehmer namens Weber, der ihn länger als ein Jahr sponsert. Doch der stirbt unerwartet. Für seine eigene Galerie auf der Kamenzer Straße 25 hat er dann in den zurückliegenden Jahren ein wohl einmaliges Konzept entwickelt: Eine Komposition aus Bildern, Räumen und Objekten, zu denen ein grünes, von Wasser befruchtetes und von Pflanzen umrankten riesiges Terrarium mit einer großen Pythonschlange zählt – ein weltoffenes Refugium, das dem Besucher Dreißigs künstlerischen Kosmos erschließen hilft.

Diese Weltsicht trägt die Signaturen einer vom Wunder berührten surrealen Innenwelt, wie Uta Dittmann das treffend charakterisiert hat. Jenseits der Tageswichtigkeiten und unseres Tagesbewusstseins spannt sie ihren Lebensbogen vom Anfang der Welt und der menschlichen Kultur bis hin zu apokalyptischen Visionen aus: Eine Schöpfung in ihrem Ur- und Endzustand, dem „Alpha und Omega des Weltenbogens“ (Bartsch), in einem ewigen Prozess des Stirb und Werde, einem magischen Kreislauf der Wiederkehr; eine Schöpfung, die sich nach Erlösung und nach Versöhnung mit dem Menschen sehnt, dem Ehrfurcht vor dem universellen Leben nicht fremd, sondern zutiefst wesenseigen sein sollte.

War vor Jahren noch mehr Dialektik und Widerspruch zu beobachten, nicht zuletzt durch die Übereinanderschichtung mehrerer Ebenen der Welt, so bricht sich in seinen Bildern und Objekten zunehmend die elementare Sehnsucht nach Harmonie und die begründete Ahnung eines harmonischen Schöpfungsganzen die Bahn. Und wenn Jürgen Dreißig etwas „schön“ findet, klingt es wunderbar naiv und unschuldig und noch durch keinerlei oberflächliche Barbie-Sterilitäten korrumpiert, was Michael Bartsch als feinsinniger Gesprächspartner des Künstlers – und nicht nur er allein – feststellen konnte. Diese ausgewogene und ungestörte Welt, die sich nicht ohne weiteres preisgibt, will er gar nicht als einen demonstrativen Gegenentwurf zu einer als schmerzend oder lästig empfundenen Wirklichkeit verstanden wissen. Sie steht für sich, Vergleiche, die bei einem rein intellektuellen, rationalen oder begrifflichen Zugriff allerdings immer falsch und unzutreffend sein werden, bleiben dem Betrachter überlassen. Die Begriffe treten uns noch in ihrer Reinheit, von ursprünglicher mythischer Symbolik belebt gegenüber, so, wie die geliebten Tiere des früheren Tierpflegers „als Botschafter einer archaischen Welt“, voran der Delphin, in der Unschuld ihres Werdens und Vergehens, jenseits von Gut und Böse und mit moralischen Kategorien nicht zu fassen, zu keiner Verstellung fähig sind. Und weist Jürgen Dreißig, ohne alle Vordergründigkeit, auf den Menschen hin, dann verweist er immer zugleich auch auf dessen Ursprung und dessen fernere Bestimmung und damit weit über den Menschen in seiner heutigen durchaus zu hinterfragenden Kultur- und Zivilisationsform hinaus.

Zartes, Embryonales, Verletzbares steht immer wieder im Zentrum, am anrührendsten vielleicht bei der „Sphinx im Moment des Wachküssens“. Alle Darstellungen leben von Farbstimmungen, surrealen Arrangements in auffällig weichen und geschwungenen Formen, von genialen Lichtspielen. Immer erzeugen die verborgenen und eindeutig zu lokalisierenden Lichtquellen eine magische Stimmung, und nicht selten besitzen die Objekte selbst eine Leuchtkraft. Am symbolkräftigsten hat das Michael Bartsch in früheren Bildern, aber beispielsweise auch beim 1999 entstandenen „Durchbruch“ empfunden. Ein meist in Blautönen gehaltener dunkler Vordergrund mit bizarren, bedrohlichen Formen wird zerrissen. Wie durch eine Lochmaske, die selbst wieder lebendig geformte Öffnungen gebiert, schauen wir auf ein Land in freundlichem Gelb, Orange oder Grün.

Dieses Bild, das den Eingangsraum der Galerie beherrscht, feiert den Beginn des Lebens, eben den „Durchbruch“ aus wirklich oder vermeintlich toten Strukturen zur Mannigfaltigkeit lebendiger Natur, in der alles und jedes zur Paarung bereit ist. Treten wir in diese Galerie, dann öffnen sich Räume in den Grundfarben Rot, Gelb, Blau und ihren Übergängen, korrespondierend mit den Bildern, zur spannungsvollen Feier von Natur und Licht, in die den Menschen dazu einlädt, sich zu versöhnen mit sich selbst vor einer magisch aufgeladenen Bilderwelt.

Deren Schöpfer hat Michael Bartsch mit hoher Einfühlung richtig charakterisiert, wenn er schreibt, dass Jürgen Dreißig ein verletzliches großes Kind geblieben sei, „unfähig zur zweckrationalen Anpassung an einen auf die Vermarktung der verpackten Leere zielenden Welt. Stattdessen wuchert bei ihm die Innenwelt, archaisch, schöpfungsverliebt, voller bizarrer Wunder. Nur Zyniker könnten über diese so unverstellte Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies spotten. Einordnen lässt sich seine Malerei kaum in eines der bekannten Genres, Surrealismus vielleicht, aber keinesfalls intellektualisiert oder maniriert.“

Dem stimme ich zu, möchte aber aus meiner eigenen Empfindung und Erfahrung noch hinzufügen, dass mit dieser Kunst etwas den Geist Heilendes und eine freiere, den Menschen zu größerer Freiheit führende Sichtweise in die Welt gekommen ist, auch wenn sie keine Heilsbotschaft im Sinne einer positiven Religion oder des Ersatzes für eine solche vermitteln will.

Jürgen Dreißig versöhnt gleichsam Himmel und Hölle und verteidigt unsere Träume. Er stellt die geistigen Möglichkeiten des Menschen den Leiden irdischen Gebundenseins gegenüber. Seine Kunst ist, wie jede große, den Tag überdauernde Kunst, zutiefst religiös, wenn man unter religiös die spirituelle Dimension des Menschen, seinen Glauben an das Heilige im Umgang mit der Schöpfung versteht. Auch seine Biografie versöhnt die Gegensätze zu menschlichem und künstlerischem Wachstum. Trinker und Asket, Dionysos und Apollon, vereinigen sich und geben Zeugnis von der Möglichkeit eines Menschen, der gleichermaßen die geheime Sprache der Tiere wie die der Engel entziffert und über die geniale Gabe geistiger Metamorphose verfügt, die ihn wachsen läßt wie eine Blume, wie einen Stern. In einem Augenblick der Konzentration und der überschäumenden Liebe berührt er in sich den Gott und bringt den Kosmos zum sprechen. Das ist die Stunde Jürgen Dreißigs, das ist die Stunde der Kunst.

Uwe Nösner, April 2005